Die Ernährungsumgebung als entscheidender, aber unterschätzter Einflussfaktor

Das Gutachten legt einen zentralen Fokus auf die Ernährungsumgebung, die das Konsum- und Essverhalten entscheidend prägt (vgl. Kap. 3 des Gutachtens „Warum wir essen, was wir essen“). Der Einfluss der Ernährungsumgebung auf unser Ernährungsverhalten ist sehr weitreichend und wesentlich umfassender zu verstehen, als dies heute in der Ernährungspolitik üblich ist. Die Ernährungsumgebung erstreckt sich über den gesamten Verhaltensprozess. Dieser kann in vier Phasen (Exposition – Zugang – Auswahl – Konsum) eingeteilt werden.


Quelle: Renner (2019, 2015).

Die Ernährungsumgebung beginnt mit der Exposition gegenüber Lebensmitteln und Essensreizen (z. B. in Werbung und sozialen Medien). Sie ist bestimmend dafür, wie präsent Essen in unserem Alltag ist und was wir als normal empfinden. Die Exposition kalibriert unser Wahrnehmungsfeld, heute häufig in Richtung auf Produkte mit ungünstigem Nährwertprofil (z. B. Fast Food, Softdrinks) und schlechter Klimabilanz.

Der Zugang zu Lebensmitteln hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu gehören der Preis, die Verfügbarkeit von Informationen sowie die sozialen Essens- und Verhaltensnormen. Letztere bestimmen, welche Angebote überhaupt akzeptabel und angemessen sind. Insbesondere die soziale Struktur (z. B. Essenszeiten) und die Vielfalt des Angebots (z. B. Convenience-Aspekte, Portionsgrößen) beeinflussen, wie viel, wann, wo und mit wem Verbraucher*innen welche Lebensmittel konsumieren können (und wollen). In jüngerer Zeit werden zunehmend mittels Vernetzung digitaler Technologien, mobiler Sensoren und Apps sogenannte „digitale Ecosystems“ in und um private Haushalte sowie im Außer-Haus-Bereich entwickelt. Diese zielen darauf ab, die Verfügbarkeit und Convenience und damit letztlich den Konsum zu erhöhen. Die Entwicklung solcher smarten, „digitalen Ecosystems” hat zur Konsequenz, dass Lebensmittel an nahezu jedem Ort und jederzeit angeboten werden und die Anforderungen an die individuelle Verhaltensregulierung („sich angesichts des allgegenwärtigen Lebensmittelangebots zu beherrschen”) weiter steigen. Gleichzeitig können „digitale Ecosystems” aber auch einen einfachen, vernetzten und auf verlässlichen Daten beruhenden Informationszugang für eine nachhaltigere Ernährung ermöglichen.

Die konkrete Auswahl von Lebensmitteln wird von sozioökonomischen Aspekten, Vorlieben und Einstellungen, Wissen, sozialen Normen und Gewohnheiten geprägt. Marketing sowie zunehmend soziale Medien sind einflussreiche Umgebungsfaktoren, die Lebensmittel mit bestimmten Werten und Merkmalen assoziieren, welche die Präferenzen von Verbraucher*innen beeinflussen. Häufig werden Produkte mit Emotionen und sozialen Aspekten (z. B. Status, Popularität, Zugehörigkeit) verknüpft, die unabhängig vom Nährwert oder Geschmack der Produkte sind. Lebensmittel mit ungünstigen Nährwertprofilen erzielen in der Ernährungswirtschaft vielfach die höchsten Renditen. Diese stehen daher im Vordergrund des Marketings.

Für den Konsum, also dafür was, wie viel und wie schnell gegessen wird, spielen die genannten Umgebungsfaktoren eine zentrale Rolle. Darüber hinaus sind hier insbesondere Aspekte der konkreten Essumgebung, wie das Speisen- und Lebensmittelangebot (Qualität, Quantität, Auswahlmöglichkeiten), Merkmale der Lebensmittel und Speisen (z. B. Portionsgröße), die Umgebungsgestaltung (z. B. Lärm, Zeitdruck, Stress), Ambiente (Platz, Licht, Temperatur, Geruch, Musik) und die soziale Umgebung (Gemeinschaft, Art des sozialen Anlasses) von entscheidender Bedeutung. Die Essumgebung, insbesondere das Ambiente und gemeinsames Essen und Trinken, erfüllen zentrale emotionale und soziale Funktionen. Empirische Befunde belegen eindrücklich, dass gemeinsames Essen ganz erheblich unser psychisches Wohlbefinden, unsere sozialen Bindungen und den Zusammenhalt sowie unsere Leistungsfähigkeit fördert. Die Atmosphäre, in der gegessen wird, vermittelt implizit und mit langfristiger Wirkung soziale Normen und Wertschätzung von Ernährung.

Ein Kernergebnis des Gutachtens ist: Der Einfluss von Ernährungsumgebungen wird in der öffentlichen und politischen Diskussion unterschätzt, die individuelle Handlungskontrolle dagegen überschätzt. Die Einflüsse der Ernährungsumgebung sind Verbraucher*innen, aber auch politischen Entscheidungsträger*innen häufig nicht bewusst, da zumeist nur auf die Konsumphase und auf eine einzelne Essensentscheidung fokussiert wird. Deshalb wird angenommen, nachhaltiger und gesünder zu essen sei eine „einfache“ individuelle Entscheidung und somit vornehmlich eine Frage der Motivation und Selbstregulation. Verbraucher*innen müssen allerdings täglich sehr viele Essensentscheidungen treffen, und zwar sowohl indem sie entscheiden, was, wie viel, wann, wo und mit wem sie essen, als auch, in dem sie in einer Umgebung, die die Aufmerksamkeit nahezu ständig aufs Essen lenkt, explizit „nein“ sagen und entsprechende Verhaltensimpulse unterdrücken.

In einem Alltag, der vielfältige Anforderungen an die Verbraucher*innen stellt, ist das Ernährungsverhalten nicht nur das Ergebnis von bewussten und reflektierten Entscheidungen, sondern oft auch das Ergebnis von vorhandenen Handlungsoptionen und habituellen und in dem Moment nicht bewussten Einflüssen. Ernährungsumgebungen wirken dabei nicht nur in der Phase des Konsums, sondern bereits vorher. Wie und wo Lebensmittel platziert und beworben werden, wie attraktiv diese verpackt sind oder wie groß die angebotenen Portionen sind, prägt die Wahrnehmung und Lernprozesse von Verbraucher*innen. Die Ernährungsumgebung definiert ferner den Rahmen der Wahlmöglichkeiten und damit die Standards für das Verhalten der Verbraucher*innen.

Faire Ernährungsumgebungen

Die Gestaltung der Ernährungsumgebung kann sich, wie derzeit vorwiegend, an einzelwirtschaftlichen Zielen oder, wie in diesem Gutachten vorgeschlagen, stärker als bisher an Gesundheit, sozialen Zielen, Umwelt und Tierwohl orientieren. Der WBAE empfiehlt im vorliegenden Gutachten, Verbraucher*innen durch die Gestaltung angemessener Ernährungsumgebungen bei der Realisierung einer nachhaltigeren Ernährung deutlich stärker als bisher zu unterstützen. Dazu gilt es erstens, solche Faktoren in den heute vorherrschenden Ernährungsumgebungen, die eine nachhaltigere Ernährung erschweren (z. B. große Portionsgrößen, hohe Werbeausgaben für ungesunde Lebensmittel,) zu reduzieren. Dazu gilt es zweitens, mehr gesundheitsfördernde, sozial‑, umwelt- und tierwohlverträgliche Wahlmöglichkeiten zu bieten, ein Erkennen nachhaltigerer Varianten zu erleichtern, einen einfacheren Zugang zu Informationen zu ermöglichen und Preisanreize zu setzen, die es naheliegender machen, die gesündere, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglichere Wahl zu treffen.

Der WBAE bezeichnet solche Ernährungsumgebungen als fair, weil und insofern sie (1) auf unsere menschlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten sowie Verhaltensweisen abgestimmt sind und (2) gesundheitsfördernder, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglicher sind und damit zur Erhaltung der Lebensgrundlagen heutiger und zukünftig lebender Menschen beitragen.

Im Umkehrschluss ist dies auch eine Kritik an einer zu starken Individualisierung der Ernährungsverantwortung. Bisher hat die Ernährungspolitik in Deutschland nach Auffassung des WBAE die Verantwortung für eine nachhaltigere Ernährung zu stark individualisiert. Der Verweis auf die für die Spezies Mensch heute angemessenen Ernährungsumgebungen impliziert also, dass eine Politik für nachhaltigere Ernährung in Deutschland deutlich mehr und eingriffstiefere Instrumente als bisher erfordert.

Wichtige Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungsumgebung umfassen beispielsweise eine hochwertige Gemeinschaftsverpflegung, insbesondere eine für alle Kinder zugängliche nachhaltigere Kita- und Schulverpflegung, werbefreie Räume, Trinkwasserspender in öffentlichen Gebäuden, geeignete Preisanreize und die Bereitstellung von handlungsnahen Informationen, mehr Transparenz über und Einschränkungen von Werbung in sozialen Medien (Social Influencing) sowie angemessene Portionsgrößen und die Gestaltung eines angenehmen Ess-Ambientes in Kitas und Schulen, aber auch in Seniorenheimen und Krankenhäusern.